Achtsamkeit und MBSR
Die Achtsamkeitspraxis ist über 2500 Jahre alt und das Herzstück der buddhistischen Meditationsdisziplin. Die Praktiken der Einsicht, Besinnung und Meditation finden sich aber auch in anderen Traditionen wie dem Christentum, Islam, Judentum oder Hinduismus. Die Essenz der Achtsamkeit ist universell und hat mehr mit der Natur unseres Geistes zu tun als mit Ideologie, Glaubensüberzeugungen oder Kultur.
Die moderne Psychologie und die Neurowissenschaften entdecken und erforschen die Achtsamkeit (engl.mindfulness) heute neu. Dr. Jon Kabat-Zinn, Mediziner, weltweit angesehener Meditationslehrer, Autor und Gründer der Klinik für Stressreduktion in Massachusets, ist es zu verdanken, dass Achtsamkeit in die medizinische Betreuung integriert wurde. In den 80ern entwickelte er das Programm “Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion”, genannt MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), das weltweit angewendet wird und dessen Wirksamkeit in zahlreichen wissenschaftlichen Studien bewiesen wurde. www.umassmed.edu/cfm/index.aspx
Viele tausend Patienten mit z.B. chronischen Schmerzen, Depressionen, Burnout oder Ängsten haben das Programm absolviert und davon profitiert. Das deutsche Max Planck Institut Leipzig erforschte in der weltweit größten Studie wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Meditation auf den menschlichen Organismus wirken, wenn sie im Alltag verstärkt kultiviert werden. www.resource-project.org
- Depressionen, Ängste und Panik Attacken sind kein Zeichen von Schwäche. Sie sind ein Zeichen dafür, dass wir zu lange versucht haben, besonders stark zu bleiben. -
"Es geht ja nicht darum, stundenlang reglos auf einem Kissen zu sitzen. Achtsamkeit heißt, sich nicht ständig von Begierden und Ängsten treiben zu lassen, sondern sich der Realität mit Offenheit, Mitgefühl, Toleranz, Geduld und Akzeptanz zuzuwenden – so gut es eben geht. Das hat nichts mit Resignation oder passivem Gutheißen zu tun.
Es geht eher um eine grundlegend andere Perspektive auf die Welt: Statt nur um unsere eigenützigen Interessen, Verluste und Aversionen zu kreisen, weitet man den Blick fürs große Ganze. Es geht
darum, das Leben in der Tiefe anzunehmen; sich den unvermeidbaren Aspekten des Lebens zuzuwenden. Diese Zuwendung zu oft schwierigen, schmerzlichen Erfahrungen kann nicht gelingen, ohne dabei ein
gewisses Maß an Geduld, Gleichmut, Mitgefühl und sogar Mut zu entwickeln. Vor allem diese ethischen Qualitäten sind es, die dazu beitragen, sich selbst und anderen Menschen offener und
freundlicher zu begegnen. Und das kann sehr heilsam sein." Paul Grossman in "Die Zeit", 2013
Grossmann ist Forschungsdirektor der Abteilung für Psychosomatische Medizin der Universitätsklinik Basel und Direktor des Europäischen Instituts für Achtsamkeit in Freiburg i.Br.
Mit Gedanken und Emotionen umgehen lernen
"In Zeiten großer Belastung kommt es vor, dass bestimmte Gedanken und Gefühle immer wieder auftauchen, dass man eine quälende Situation immer wieder von neuem erlebt und sich hilflos im Kreis dreht. Wenn Sie in einem solchen Fall achtsam sein können, wenn Sie alles genau und so unvoreingenommen wie möglich betrachten, werden Sie schnell merken, dass auch die sich wiederholenden Gefühle und Gedanken wie Wellen sind, die im Geiste entstehen, sich aufbäumen und wieder in ihm versinken. Keine Welle gleicht der anderen. Sowohl im Augenblick des Entstehens wie auch den Vergehens unterliegen sie der Veränderung.
Derselbe Vorgang lässt sich im Hinblick auf die Intensität von Emotionen beobachten. In einem Augenblick fühlt man sich wie gelähmt, im nächsten gerät man in Panik oder nackte Wut, dann versinkt man wieder in Dumpfheit und Erschöpfung. Wenn Sie Ihre Gemütszustände einmal wirklich beobachten, können Sie gar nicht anders als die Unbeständigkeit dieser Erfahrung anzuerkennen. Sie springt einem geradezu ins Auge. Das wahrnehmende Bewusstsein, das wir den neutralen Beobachter genannt haben, registriert alle auftretenden Gemütsbewegungen. Es lehnt sie weder ab, noch verdammt es sie, noch wünscht es, dass alles anders wäre. Es regt sich auch nicht mehr darüber auf und gerät aus der Ruhe. Die Achtsamkeit ist wie ein Fels in der Brandung, ein Ort der Zuflucht und Ruhe in Zeiten des Aufruhrs."
Jon Kabat-Zinn
(mehr Videos findet ihr unter freunde & links)
Wie wirkt Achtsamkeit bei Angst und Panik?
"Ein Angstzustand bewirkt ein inneres Sich-dagegen-Sträuben. Dieser innere Widerstand bewirkt, dass die Angst aufrechterhalten wird. Durch die Achtsamkeits- praxis können die Patienten lernen, mit der Angst einfach nur zu sein und wahrzunehmen, was Angst eigentlich ist, wie sie sich anfühlt, etwa dass die Schultern angespannt sind, sich der Kopf dreht und der Herzschlag erhöht ist. Und wenn man sich in diese andere Blickposition bringt und einfach nur das, was ist, urteilslos beobachtet, dann wird nach einer Zeit die Angstreaktion automatisch abnehmen.
Denn es liegt in der Natur einer Angstreaktion, dass sie nach einer Zeit von selber abnimmt, wenn man sie einfach sein und durch sich hindurchfließen lässt. So kann ich paradoxerweise einen unangenehmen Zustand wie Angst, Stress oder Schmerz überwinden, indem ich ihn wahrnehme und da sein lasse, weil ich eben nicht innerlich die ganzen Mechanismen auslöse, die ihn aufrecht erhalten." Britta Hölzel
Viele Menschen leiden, weil sie sich der Natur des Geistes nicht bewusst sind
Dabei liegen Wissen und Methoden längst bereit. Schon nach kurzer Zeit wird ein Schüler der Achtsamkeit erfahren, wie er durch meditatives Geistestraining dem Leben mit einer veränderten und befreienden Einstellung begegnen kann.
Ein Achtsamkeitskurs und die Begleitung durch Lehrer und Gleichgesinnte kann dabei helfen. Das Lesen von entsprechender Literatur kann die Einsicht vertiefen. Außerdem stehen im Internet eine Vielzahl von Videovorträgen einschlägiger Achtsamkeitslehrer zur Verfügung.
Unseren Körper nähren und bewegen wir ganz selbstverständlich, doch die Integration eines bewussten Trainings für den Geist steht in unserer westlichen Kultur erst am Anfang. MBSR ist ein guter Einstieg in die Achtsamkeit und die Meditation, da das Programm einerseits wissenswerte Inhalte vermittelt, andererseits praktische Übungen beinhaltet. Die Wissenschaft hat bereits nach einem 8-Wochen-Kurs signifikante Veränderungen im Gehirn nachgewiesen. Jeder Kurs-Teilnehmer geht verändert aus dem Training hervor.
Selbstmitgefühl - ein wichtiger Aspekt der Achtsamkeitspraxis
"Viele Menschen haben eine übertrieben kritische, zu Tadel und Ablehnung neigende Haltung gegenüber sich selbst. Ein Grund hierfür sind die oft überzogenen Ansprüche, die wir an uns stellen. In der aktuellen Achtsamkeits- und Meditations- forschung gewinnt daher das Thema „self compassion“, also Selbstmitgefühl, immer mehr an Bedeutung. Wir wissen, dass es die psychische Gesundheit fördert und Menschen glücklicher und zufriedener macht, wenn sie mehr Mitgefühl mit sich selbst haben.
Es geht darum zu lernen, mit sich selbst liebevoller und geduldiger umzugehen und sich selbst wie einen guten Freund und nicht wie ein überkritischer, nach Fehlern suchender Lehrer zu behandeln.
Eine mitfühlende Einstellung zum eigenen Selbst lässt uns gesünder leben, weil wir mehr auf uns achten und besser für uns sorgen. Deshalb ist es wichtig, Selbstmitgefühl zu kultivieren, zum einen
auf einer innerlichen Ebene, aber auch körperlich, also sich zu fragen, wie kann ich dafür sorgen, dass ich mich besser fühle, kann ich vielleicht mehr Sport machen, mich gesünder ernähren oder
mir einmal Ruhe gönnen und eine Pause machen. In den USA gibt es bereits richtige Trainings, in denen die Teilnehmer lernen, mehr Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln." Britta Hölzel
Wie kann meditieren bei chronischen Schmerzen helfen?
"Es geht darum, einen anderen Umgang mit dem chronischen Schmerz zu finden. Ich nehme den Schmerz wahr und merke, ich bin nicht nur Schmerz, sondern es gibt außer dem Schmerz noch etwas anderes.
So kann ich ihn mit einem gewissen inneren Abstand wahrnehmen. Was sich verändert ist nicht die Intensität der Schmerzempfindung, sondern die Bewertung des Schmerzes mit der Folge, dass die
inneren Widerstände gegen den Schmerz abnehmen. Auf diese Weise kann das Wohlbefinden und die Lebensqualität chronischer Schmerzpatienten verbessert werden. Denn wir wissen, dass gerade der
innere Widerstand, das sich Dagegenstellen, chronische Schmerzen so unerträglich macht. Wenn man den Widerstand aufgibt, ist der Schmerz noch da, aber es muss kein Leid mehr da sein. In der
Terminologie unterscheidet man zwischen Schmerz und Leid. Schmerz muss nicht unbedingt Leiden sein, sondern Leiden entsteht dadurch, dass ein Widerstand, ein innerer Unfriede mit der Situation
da ist. Achtsamkeitsmeditation hilft, davon loszulassen." Britta Hölzel
Leid = Schmerz x Widerstand
Warum neigen wir dazu, immer alles gleich zu bewerten?
"Evolutionsbiologische Theorien beschreiben, dass dies mit unserem Überlebensinstinkt zu tun hat. Unser Gehirn prüft ständig, ob etwas gefährlich oder lohnend für uns ist – oder neutral, was dann meist dazu führt, dass wir etwas ignorieren. Für das Überleben ist dieser Automatismus zum Teil notwendig. In vielen Situationen kann er aber auch hinderlich sein. Diese Mechanismen zu durchschauen und bewusster zu leben, ist ein wichtiger Aspekt der Achtsamkeitspraxis.
Die entscheidende Frage ist ja, wie lange ich an meinen Bewertungen festhalte, ob ich mich also auch wieder von ihnen lösen kann. Natürlich haben wir in unserem Alltag Situationen, in denen
wir reagieren und bewerten müssen. Zum Beispiel, wenn wir in einer Stresssituation sind, dann müssen wir wissen: Okay, jetzt ist es gerade aus diesem oder jenem Grund stressig und ich muss
reagieren, um aus der Situation herauszukommen. Das ist ganz normal. Stress ist ja an sich eine gesunde und lebensnotwendige Sache. Schwierig wird es erst, wenn wir in der Stressbewertung hängen
bleiben und nicht mehr aus unserer Stressreaktion herauskommen. Bei vielen dauerhaft gestressten Menschen können wir genau dies beobachten: Sie erleben gar nicht mehr, dass der Stress
vorbei geht und sie sich entspannen können, sondern erfahren Stress als Dauerzustand." Britta Hölzel
Britta Hölzel ist Neuropsychologin und MBSR-Lehrerin
Forschungsschwerpunkte sind die neurobiologischen Mechanismen von Meditation und Yoga, deren Einfluss auf die Emotionsregulation, sowie die Anwendung von Achtsamkeitsmeditation in der Behandlung psychischer Störungen und bei Stress.
ganzer Artikel: "Wenn das Gehirn meditiert"
www.arbor-verlag.de/wenn-das-gehirn-meditiert
Der Film "Raising Compassion" dokumentiert einen einzigartigen Austausch zwischen Wissenschaft, Kunst und kontemplativer Praxis: Auf Initiative von Neurowissenschaftlerin Tania Singer und Künstler Olafur Eliasson kamen Neurowissenschaftler, Psychologen und buddhistische Mönche zum Gespräch zusammen. Im Mittelpunkt standen Vorstellungen von Mitgefühl in der Öffentlichkeit, der Austausch über Trainingsprogramme an verschiedenen Forschungszentren, ebenso wie Erfahrungen im Strafvollzug oder in Krankenhäusern – nicht zuletzt um ein Bewusstsein zu schaffen für die Relevanz und das Potenzial solcher Programme für Gesellschaft und Politik.
Link zur Website und zum kostenlosen ebook zum Thema Mitgefühl
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.